Warum ein Buch eine gute Alternative ist 

Heute führte mich ein Treffen mit der Grafik Designerin Lisa Beck in die Darmstädter Landwehrstraße und die alte Motorenfabrik, die hier angesiedelt war. Ich lief von der Straßenbahnhaltestelle ein Stück die Kirschenallee entlang, an den Backsteinwänden der Evonik vorbei, die früher mal Röhm hieß. Wo Schienen im Pflaster verwittern, geht es weiter in Richtung eines imposanten Gebäudes mit großen Werkshallen dahinter. Dort, wo von 1902 bis 1960 Dieselmotoren für Lokomotiven und Traktoren hergestellt wurden, ist nachdem die Firma Schenck es abgegeben hat, ein spannendes Areal für kreative Unternehmungen entstanden.

Ich traf mich mit Lisa im Büro des Raum 103, einem Studio für professionelle Postproduktion, das in beeindruckend hohen Räumen mit viel Industriecharme logiert. Die Mitarbeiter begrüßten mich freundlich bis neugierig. Denn Lisa und ich haben ein neues Projekt im Kopf. Mit einem Kaffee setzten wir uns an einem kleinen Plätzchen mit schmucken Betonmöbeln in die Sonne. Wir möchten eine Buch-Idee angehen. Wenn manche nun denken, Print hat doch einen ellenlangen Bart, stimmt das einerseits. Anderseits muss das kein Nachteil sein. Denn schon Herr Goethe wusste: „Was man schwarz auf weiß besitzt, kann man getrost nach Hause tragen.“ Das Zitat ist natürlich wie so viele, die geflügelte Worte geworden sind, aus dem „Faust“. Stimmt aber immer noch.

Denn gegen die Haptik einer Drucksache oder gar eines Buches kommt so schnell nichts an. Irgendwie erregt Gedrucktes mehr Aufmerksamkeit, heftet sich besser ins Gedächtnis als Digitales – und man kann ein Buch oder eine Broschüre unkompliziert einstecken und mitnehmen. Einfach aufklappen und schon ist der Inhalt verfügbar, ganz ohne Netz und WLAN-Passwort. Selbstverständlich ist ein Buch ohne digitale Verknüpfungen heute auch nur noch eine halbe Sache. Die Möglichkeiten einer solchen Verknüpfung sind vielseitig. Ein wichtiges Medium ist beispielsweise der QR-Code, der mit einem mobilen Gerät vom Printprodukt abgescannt werden kann und dann automatisch auf die entsprechende Internetseite weiterleitet. Digital sind dann Produktvideos oder Buchtrailer, 360° Ansichten, Fotos und Karten verfügbar, die dem Leser und Konsumenten eine neue Erlebnisdimension eröffnen und weiterführende Informationen liefern können.

Es geht bei dem neuen Projekt in erster Linie um ein Printprodukt, das neugierig auf Orte machen soll. Und nun müssen erstmal ein Probetext mit Gestaltung erstellt, Kosten kalkuliert und Sponsoren gefunden werden. Aber wir gehen mit Engagement und Freude an die Arbeit – und ich bin dadurch einmal wieder auf einen neuen spannenden Ort gestoßen, den es zu entdecken gilt.

Über Mittag habe ich bereits damit angefangen und bin das Gelände abgelaufen, wo es eine Eventlocation, verschiedene Büros und Künstlerateliers gibt. Zum Beispiel logiert hier der Metallbildhauer Georg-Friedrich Wolf der riesige rostige Puzzleteile aneinanderreiht, die sich im urbanen Umfeld gut machen. Mir gefällt an solchen Teilen besonders die Oberfläche, die sich durch Witterung verändert und lebendig ist. Es scheint so, als ob sich die Natur auch die Mineralien zurückerobert, bis irgendwann alles wieder zu Erde wird. Ebenfalls entdeckt habe ich das Atelier der Darmstädter Malerin Ulrike Rothamel, die an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach studiert hat, und die ich einmal besuchen möchte.

Als ich Hunger verspürte, besuchte ich die Bruno’s Pizzeria, und stärkte mich mit einer kalabresischen Variante, die mit scharfer Salami, Rucola und Büffelmozzarella belegt war, wirklich sehr lecker.

Den Nachmittag verbrachte ich dann schreibend an einem langen Holztisch im Boulderhaus, einer Kletterhalle mit angeschlossenem Bistro. Hier fügen sich sechziger Jahre Möbel bestens in die luftige Industriehalle und es sind immer genügend Leute um einen herum, um sich beim Schreiben nicht einsam zu fühlen. Allerdings kam ich mir beim Sitzen grässlich untrainiert vor gegen die jungen Kletterer, die sich hier an den Wänden probierten. Ob ich das auch mal versuchen sollte? Vielleicht beim nächsten Mal, wenn das Printprodukt ein paar Fortschritte gemacht hat. Wenn’s nicht klappt kann ich dort immer noch Yoga machen.

Ich kannte die Raumkonzepte von Tobias Rehberger aus Pop-up-Restaurants wie der Degussa-Kantine oder dem Museum für Moderne Kunst. Vielleicht gerade deshalb hatte ich eigentlich keine Vorstellung davon, was ich von der Ausstellung in der Frankfurter Schirn zu erwarten hätte. Der Einladungs-Flyer, den mir eine Freundin zum Geburtstag überreichte, flimmerte vielversprechend in schwarzweiß und gab so einen vagen Hinweis, dass es sich nicht um zweidimensionale Kunstwerke handeln würde.

Die Spannung jedenfalls war während der Eröffnungsansprachen im Publikum merklich zu spüren. Die Menschen standen kaum still, konnten es nicht erwarten, bis das letzte Wort verhallt war und sich die Türen zur Ausstellung öffneten. Ein Satz von Herrn Hollein über die Kunst als Erfahrung blieb mir im Kopf. Und die Überraschung war sichtbar gelungen. Kaum im Raum, ging ein Lächeln durch die Menge und wirklich jeder und jede zückte sein Smartphone und knipste sich selbst im Spiegel des schwarzweißen Irrgartens. Es war schon interessant zu sehen, wie das Spiel mit der Wahrnehmung die Besucher sichtlich begeisterte und direkt fröhlich stimmte. Gut gelaunt strömten die Massen durchs Schwarzweiß des ersten Raums und viele sahen so aus, als hätten sie sich genau für diese Raumerfahrung gekleidet, um selbst einmal ein kleines Kunstwerk im Kunstwerk zu sein.

Ganz im Gegensatz zum ersten Raum war der zweite Raum weiß und hoch wie eine Kathedrale des Lichts. Neugierig und geradezu gut gelaunt schlenderten die Kunstliebhaber nun an originellen Blumenvasen vorbei, die Künstlerkollegen von Rehberger darstellen. Entzückt blieben besonders Damen vor den Sträußen stehen und fragten sich, was wohl mit Ihnen bis im Mai passieren würde. Verwelkte Kunstwerke? Um das zu erfahren müsste man wohl noch einmal in die Ausstellung gehen und das sollte man auch – dient auf jeden Fall der Bewusstseinserweiterung über moderne Bildhauerei und macht Spaß.

In einem kleinen Kellerraum der Stadtbibliothek ruht, Jahre vergessen, ein Schatz von 600 Bildern – die  meisten von ihnen von Offenbacher Künstlern. Ich bin dort mit zwei Kollegen vom Offenbacher Kunstverein, wo wir 40 Bilder für die Offenbacher Kunstansichten (26. bis 28.4.) aussuchen. Sie werden im neuen Kunstraum im Wohnbüro (alte IHK) gezeigt.

Wir sehen uns die Fotos der Bilder auf dem Computer an, das ist einfacher, als alle Schubladen gleichzeitig zu öffnen. Es ist wie eine kleine Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts. Man finde schöne Radierungen in schwarz/weiß im Stil Spätromantik. Ein Kuppelraum von innen, schöne Schattenspiele. Es könnte sich um das Offenbacher Capitol handeln, vor Classic Lounge, vor der Reichskristallnacht. Eine fast unschuldige Fin-de-Siècle-Stimmung aus den Siebzigern.

Mir gefällt eine Lithographie mit einem Okapi in der Wüste voller Strommasten und einer Steckdose in der Luft. Man denkt an Magritte dabei. Es kommt hinein, in unseren Auswahlordner und dazu ein paar Landschaften, kolorierte Zeichnungen – eine geometrische mit Spargelfeld und Spalierobst im Vordergrund, eine andere, eher chaotisch, mit einem blassblauen See. Hier könnte ein Mord geschehen sein.

Das nächste ist eine Serie von Schwarzweiß-Drucken mit dem schönen Titel „Glaub nicht Blödworten“. Ziemlich provokant, die Darstellungen. Am besten, man sieht sich das in natura an. Danach konzentrieren wir uns stärker auf kräftige Farben, ein Aquarell mit Tomaten, ein klassisches Stilleben mit originellem Motiv und passt irgendwie zu Offenbach, wegen der Heidi auf dem Markt, mit ihren vielen bunten Tomaten. Und eine südliche Meereslandschaft, blau mit gelben Booten, so ein typisches Sehnsuchtsbild eines Deutschen.

Es ist unglaublich, hier unten findet man fast alles und viele Bilder erinnern an die anderer Künstler, die man schon irgendwo einmal gesehen hat, aber diese hier sind von Künstlern gemalt, die durch diese Stadt gingen, wich ich.

Nachts kam es mir in den Sinn, wie großartig das wäre, eine Ausstellung zu realisieren, bei der all diese 600 Bilder gezeigt würden. Ob das Büsing-Palais wohl reichen würde?

Zunächst werden also erstmal 40 weitere Bilder zu sehen sein im „Kunstraum im Wohnbüro“ und ich werde Texte lesen, die irgendwie in den Rahmen passen. Am 27.4.

Eine Freundin hatte Einladungen für das gestrige Frankfurter Großereignis bekommen und wir trafen uns im Frankfurter Kunstverein, um uns für die Begegnung mit Yoko Ono und ihren Werken zu stärken. Dafür boten sich Beluga Linsen und Kartoffelsalat sowie ein Glas Wein. Wir taten gut daran, denn was da kommen sollte, verlangte uns Einiges an Kraft ab. So einfach ist der Zugang zu Onos Werk nicht.

Von unserem Platz am Fenster blickten wir immer mal zur Schirn hin. Der im Moment von Bauzäunen umgebene Platz wirkte ruhig, trügerisch ruhig. Viertel vor sieben, begaben wir uns dann, wie alle anderen in die Rotunde. Dort standen wir mit gefühlten tausend  Besuchern und versuchten mit Yoko Ono und ihren Werken in Berührung zu kommen. Ihr gefordertes „get involved“ wurde schon hier vor dem Nadelöhr der Eingangstür übererfüllt. Wenn auch vielleicht ohne besondere Absicht und eher aus Platzmangel nahmen die Wartenden die Installation in der Rotunde in Beschlag: Sie saßen auf der grauen Platte, liefen über die aufgeschütteten Kiesel und rüttelten an den weißen Spannseilen, die wie Sonnenstrahlen hinauf wiesen ins Allerheiligste der Schirn, den Innenraum, wo sich auch irgendwo Yoko Ono selbst befinden musste.

Nach den üblichen Reden konnte man jedenfalls von irgendwoher ihre wohlklingende, helle Stimme hören. So klingt also eine Achtzigjährige. Nicht schlecht, dachte ich mir und nahm mir gleich vor, an meiner Stimme ebenfalls zu arbeiten, damit wenigstens diese irgendwann davon zeugen würde, dass auch ich einmal jung gewesen war.

Nach den Reden drängten wir mit den gefühlten tausend Anderen tapfer zur schmalen Eingangstür. Doch der Wind pfiff erbarmungslos und februareisig durch die Rotunde und drohte uns mit garstigen Folgen, falls wir weiter warten würden. Alle Bemühungen schienen sinnlos und wir entwischten durch ein zugiges Loch nochmals in den Kunstverein. Inzwischen war ein Kollege meiner Freundin zu uns gestoßen und über den schwierigen Zugang zu Yoko Ono und ihrem Werk und bei einem gepflegten „Tannenzäpfle“ kamen wir auf Paul Celan seine schwer zugänglichen Gedichte. An den Tischen befanden sich weitere Kunstgestrandete und wir beratschlagten, ob wir nachher noch in die Ausstellung gehen sollten. Irgendwann sahen wir am Fenster einen schwarzen Benz mit getönten Scheiben vorbeifahren. Wir waren uns sicher, darin musste Yoko Ono sein.

Ihre Abwesenheit schien ein guter Zeitpunkt, um es noch einmal zu versuchen, mit der Ausstellung. Und tatsächlich. Drüben hatten sich die Massen verlaufen. Ungehindert glitten wir durch den blauen Plastikvorhang in Yokos Kunstwelt. Wir kamen vorbei an einem Zimmer, in dem alles halb war und an den Wassergläsern, mit all den berühmten Namen drauf, die auf frappierend einfache Weise bewusst machen, dass wir alle nicht mehr als ein Schluck Wasser sind im Universum. Alle Leute liefen da durch diese teilweise banalen Alltagsgegenstände und fragten sich heimlich, genau wie ich, warum das Kunst ist und während man sich das fragt, kommt man drauf, dass eben diese Frage die Antwort enthält – nämlich sich einfach zu fragen, was Kunst ist und was Kunst für das Leben bedeutet.  Allein für diese Anregung lohnt es sich, in die Ausstellung zu gehen.

Die Malerin und Filmemacherin Leonore Poth hat ihr Atelier in einem großen alten Wohn- und Geschäftshaus der Jahrhundertwende in der Niddastraße. Großer Torbogen. Dann fünfter Stock oder so. Ich war ganz außer Puste. Es ist das einzige Haus in der Niddastraße, das ich kenne. Habe dort im vierten Stock jahrelang die Kobra gemacht oder den Hund – in den Yogakursen des dortigen Instituts.

Die Malerin zeichnet unter anderem Stadtansichten von Frankfurt und Offenbach. Sehr spezielle Stadtansichten von Straßen und Ecken, die nicht unbedingt in Postkartengesicht haben. Eigentlich sind es nur ein paar Striche in Pastellblau- oder braun- die richtigen Striche. Solche Ansichten sind typisch für Offenbach: Ein Gründerzeitaltbau neben einer Baulücke, im Hintergrund die mittelblauen Balkone eines Wohnblocks aus den Siebzigern.

Diese Ansichten in einem Format von 70 x 50 Zentimetern liegen ausgebreitet auf einem großen Tisch im großen Flur.  Am besten gefallen mir eine Zeichnung vom Offenbacher Bahnhof und eine von einer Baulücke in der Geleitsstraße. Beide zeigen die Stadt in ihrer immer währenden Unfertigkeit. Diese Zeichnungen sind nicht im herkömmlichen Sinne schön, aber sie berühren, verletzen fast in ihrer Spitzheit, tun weh wie das Anschauen dieser Silhouetten einem manchmal wehtut. Leonore Poth malt solche Zeichnungen auch von Frankfurt. Vielleicht sind diese Ansichten typisch für deutsche, kriegsverletzte Städte. Mir fällt mein anderes Bild ein, dass ich zuhause habe. Ich habe es vor zwei Jahren ersteigert. Es zeigt einen Wohnblock in der Inheider Straße und ist von einem Frankfurter Maler.

Ich habe große Lust, eine Sammlung zu beginnen von solchen Stadtansichten. Mal schauen, welches Bild von Leonore Poth in diese Sammlung gelangt.

Vor ein paar Tagen bin ich mal wieder über den Fluss gefahren. Ins Kunstforum der 1822. Dorthin hatte Eloise Hawser, Städelschülerin bei Tobias Rehberger, und gebürtige Engländerin geladen.

Die Gegend um die Fahrgasse erinnert mich immer an meine frühen Berufsjahre bei der Degussa AG. Und die Exponate von Eloise Hawser passten irgendwie zu dieser Erinnerung. Es handelt sich dabei um Dinge aus dem Büroalltag, auf kluge Art verfremdet, und zum Kunstwerk erhoben.

Gleich, als ich reinkam zog mich die leuchtend blaue Abdeckung eines Kopierers magisch an. Die alten Kopierer meiner frühen Bürotage hatten tatsächlich solch blaue Deckel. Ich empfand es damals als Segen, dass sie solange zum Kopieren brauchten. Da konnte ich mal ein paar Minuten auf dem dunklen Flur meinen ganz persönlichen Gedanken nachhängen. Und keiner konnte was dagegen sagen.

Meine Erinnerung wurde noch weiter angeregt von einer jungen Sprecherin aus dem Portikus, die für ihre Einführung auf ein weiteres Kunstwerk, eine bekritzeltes Flipchartblatt, hinwies. Dieses hatte wohl als Inspirationsquelle gedient. Denn es stammt tatsächlich aus einer Anwaltskanzlei, in der Eloise jobbt – und es hatten sich darauf Kollegen mit kleinen Zeichnungen und Sprüchen verewigt.

Ein Kopierer also. Damit wird Gedankengut vervielfältigt. Unendlichfach. Oft stehen Sachen auf den Papieren, die man eigentlich im Kopf haben sollte, kam es mir in den Sinn. Jedenfalls fügten sich zu der Kopiererabdeckung sehr schlüssig die weiteren Exponate. Besonders schön: Ein Kopf mit abnehmbarer Abdeckung, seitlich offen mit Schubfächern darin. Gerade so, dass man die Papiere dort hineinlegen könnte. Nur ob das nützen würde, diese Ablage? Denn Ablage ist ja meist im Sinne des Wortes tatsächlich „abgelegt“.

Für mich steht dieser Zettelkastenkopf jedenfalls auch für den ganzen Gedankenmüll, den man so tagtäglich in seinem Oberstübchen herumträgt – und der einem manchmal die Sicht auf das Wesentliche versperrt.

Dieser Gedanke hat irgendwie meine Woche gerettet und dafür danke ich der Künstlerin. Entstanden sind die Kunstwerke übrigens in den Werkstätten der HfG Offenbach, im dortigen 3-D-Zentrum.

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