Kürzlich besuchte ich mit meiner siebzehnjährigen Nichte Paris. Jeder sagt, sie ähnelt mir und vielleicht wollte ich mit ihr in die Stadt an der Seine, um mir selbst als junge Frau nochmal nah zu sein.
An einem dieser glühend heißen Nachmittage saßen wir auf der Terrasse des Café Le Dôme, die Nase zum Boulevard Montparnasse. Ich bin mit ihr hierher gekommen, um die Magie des Ortes zu spüren. Es war in diesem Café, wo sich „Literaten“ trafen, die damals noch keine waren. Jedenfalls standen sie noch am Anfang ihrer Laufbahn, wie etwa Hemingway, der mit seiner ersten Frau und seinem kleinen Sohn unweit der Rue Mouffetard wohnte. Oder Henry Miller, der getrennt von seiner Frau June hier eine ganz besonders europäische Freiheit genoss. 1897 eröffnet ist es das älteste Café am Boulevard Montparnasse.
Diese Terrasse, gegenüber der Rotonde und nur einen Steinwurf weit vom Select, berühmt berüchtigten Nachtlokalen, ist auch Schauplatz in einem Roman. Jules und Jim, die beiden Helden des Romans von Henri Pierre Roché trafen sich hier zum ersten Mal. Das ist so eine der ersten Szenen im Buch, die sich auch in der Wirklichkeit hätte abspielen können, denn Henri Pierre Roché traf sich hier auch mit dem Vorbild für seinen Protagonisten, Franz Hessel. Beide trafen sie hier auch Helen Grund, dem Vorbild für die Protagonistin mit dem archaischen Lächeln im Roman oder im Film von Truffaut. Inzwischen widmet sich ein ganzes Buch dieser interessanten Frau, das ich leider nicht geschrieben habe. Und ein Roman mit dem verheißungsvollen Titel „Pariser Romanze“ von Franz Hessel, dem Ehemann. Für die beiden Deutschen war Paris damals neu und exotisch, so wie es heute für Julia ist – und immer noch für mich. Obwohl der Boulevard Montparnasse heute etwas verlassen wirkt. Die Gegend ist lange nicht mehr en vogue.
Wir waren hier in der Nähe auf der Ausstellung über die Kunst des Kongo „La Beauté Congo“. Farben, die das Land aus der Unsichtbarkeit in die Gegenwart der Europäer peitschen.
Durch Julias Augen sah ich, dass es im Dôme immer noch schön ist: Die roten Lampen unter dem Glasvordach, die geflochtenen Stühle…und erst das Innere. „Sogar die Treppe zum Klo sieht vornehm aus“, sagte sie. „Schade, dass es für Drinnen zu heiß ist, ich würde gern an jedem der Tische einmal sitzen.“ Ich erzählte ihr von all den berühmten Gästen vor uns. Sie war von den Kellnern in ihren Livrées beeindruckt und nippte andächtig an ihrem Getränk. „Jetzt komme ich mir ganz nobel vor“, sagte sie. „Obwohl wir hier nur eine Cola und einen Kaffee trinken.“ Später erzählte sie mir von einer Organisation, die sich um die Verteilung afrikanischer Flüchtlinge in Privathaushalte kümmert. So etwas in Erwägung zu ziehen kostet freilich mehr Mut, als diese bunte Ausstellung anzusehen.Solche Gedanken konnten wir hier in Ruhe denken. Julia zeichnete in ihrem Skizzenbuch, ich schrieb ein wenig. Die befrackten Kellner waren zuvorkommend, diskret und ganz und garnicht nervig.
Auf dieser Terrasse saß ich schon einmal, als die Welt noch riesengroß vor mir lag. Vieles habe ich seither gemacht, vieles noch nicht. Zuhause habe ich nachgeschlagen. Das war am 7. April 1982, nach einem Besuch des Marktes in der Rue Mouffetard. Damals war ich nur zwei Jahre älter als Julia. Vielleicht ein guter Grund, hierher zu kommen – um sich daran zu erinnern, was man im Leben noch alles so tun wollte. Und außerdem ist es immer noch sehr schön, das Dôme, in seinem kaum veränderten Jugendstil-Décor.