Gestern Abend überbrückte ich ein Stündchen zwischen zwei Terminen bei Lam Frères in der Weserstraße. Das war wie so ein klitzekleiner Urlaub in Vietnam, ein Eintauchen in eine andere Welt. Dieses Eintauchen begann schon, als ich in der Münchner Straße die Linie 11 verließ. Die großen, alten Häuser mit ihren steinernen Balkonen, die Leuchtreklame, die vielen bunten Lädchen mit thailändischen oder indischen Spezereien, die kleinen, sehr authentischen Lokale. Wie in einer anderen Stadt fühlte ich mich plötzlich, vielleicht China Town, vielleicht Saigon.
Bei Lam Frères hängen Fotos in Sepia mit alten Stadtansichten, sehr alten, von vor dem zweiten Weltkrieg. Eine Ecke kommt mir bekannt vor. Vielleicht Hanoi. Der Raum ist wie gemacht für diese Fotos und das Angebot vietnamesischer Speisen. Er wirkt wie ein Setting, man könnte eine Filmszene darin drehen. Das dachte ich schon bevor ich jemals in Vietnam gewesen war und das denke ich jetzt immer noch. Eine Filmszene aus Marguerite Duras „Liebhaber“. Es gibt da so eine Szene, an die ich denke. Sie kommt nach der ersten Liebeszusammenkunft der beiden Protagonisten. Er führt sie in ein Restaurant aus. Es ist prächtig und mehrstöckig und liegt im chinesischen Viertel von Saigon, in Cholen. Bei diesem Essen fragt sie ihn nach seinen Verhältnissen aus. Sie will mehr über seinen Reichtum wissen. Diesen Reichtum, der in der Geschichte einen großen Teil der Erotik ausmacht.
Wie durch einen seltsamen Zufall habe ich, bevor ich das Haus verließ, einen Artikel in meine Tasche gesteckt, den ich mir einmal ausgedruckt habe. Es ist ein Artikel aus der deutschen „Lettres“ zum Tode von Marguerite Duras im Jahr 1996. Er war mir zwischen den Jahren beim Schubladenaufräumen in die Hände gefallen und ich wollte ihn gern einmal wieder lesen.
Das Lam Frères ist der beste Platz dafür, beschließe ich, hole ihn heraus und lege ihn auf den Tisch, neben das weiße Teekännchen. Hier gehört dieser Artikel hin, denke ich und betrachte nochmals den Raum. Ein alter, hoher Raum, elfenbeinweiß getüncht, dunkel getäfelt, mit einer typisch abgerundeten Art Déco-Ballustrade und schönen Glaslüstern. Was war hier früher drin, frage ich mich jedes Mal, denn man kann unmöglich den ganzen Raum so hergerichtet haben. Es muss ähnlich ausgesehen haben – und der neue Pächter hatte das mit einem Blick erkannt.
Ich sitze in einer gemütlichen Ecke hinter einer Milchglaswand. An den beiden großen Tischen, entlang der Wand sitzt eine große Gruppe junger Asiaten. Ich versenke mich in meinen Artikel. Er beginnt mit einem wunderschönen Zitat über das Gesicht der Protagonistin ganz vom Anfang des Romans. Ich schlürfe meine Wan-Tan-Suppe und lasse mir die Worte auf der Zunge zergehen, denn dafür scheinen sie wirklich gemacht: „Zwischen achtzehn und fünfundzwanzig nahm mein Gesicht eine unerwartete Richtung. Dieses Altern war jäh. Ich sah, wie es einen Gesichtszug nach dem anderen erfaßte, wie es deren Beziehung untereinander veränderte, wie es die Augen größer machte, den Blick trauriger, den Mund bestimmter und in die Stirn tiefe Furchen grub. (…) Dieses neue Gesicht habe ich behalten. (…) Es ist nicht erschlafft wie manche Gesichter mit feinen Zügen, es hat die Konturen bewahrt, doch sein Stoff ist zerstört. Ich habe ein zerstörtes Gesicht.“
Es ist eine wunderbare Stelle, die mich immer wieder zu einem eigenen Anfang einer Geschichte anregt. Natürlich würde das ebenfalls eine Liebesgeschichte sein, eine dramatische, eine unglücklich endende: Mir selbst kommt es manchmal vor, als habe ich mein jetziges, markantes Gesicht erst in einem schon fortgeschrittenen Alter erhalten. Ich war schon um die vierzig, glaube ich, und begann das Haar so zu tragen, wie jetzt. Im Grunde hatte ich mein Gesicht niemals recht wahrgenommen. Es war mir immer etwas zu weich, zu sanft vorgekommen, bis…ja, so ähnlich könnte das gehen, denke ich und lese wieder ein Stückchen weiter. Auf der Zunge den bitteren Geschmack von etwas zulange gezogenem Jasmin-Tee. Ein Wendung fällt mir auf. Es steht da, dass die Mutter der Duras zu einem „rauschhaften Lebensgefühl“ neigte und dies wohl an die Tochter weitergegeben habe – und dieses Lebensgefühl habe sich zum Schreiben weit besser geeignet, als die Versuche des Reisfelderbestellens der Mutter. Ja, mag sein, denke ich. Ich selbst stelle mir die Duras oft sehr einsam vor, allein in ihrem Haus, in der Normandie. Verlassen von allen und besessen von der Idee des Schreibens, die das Schreiben selbst manchmal nicht einfach macht.
Ich beschließe den Artikel zwischen den Speisekarten zu verstecken, damit ihn jemand anders findet und liest. Denn er wirkt so schön anregend in dieser Atmosphäre und vertreibt für ein Stündchen die Einsamkeit oder das Gefühl des Alleinseins.