Ich weiß nicht so genau, was an der Bahnhofsviertelnacht anziehender wirkt: Die Öffnung von Tür und Tor, auch seitens halbweltlicher Vergnügungsstätten, in die man sonst nicht reinkommt oder die Menschen an sich. Für mich war es gestern eindeutig letzteres.
Ich kam am späten Nachmittag mit der Linie 11 in der Münchener Straße an und blieb erstmal am Schaufenster von Schuh-Krolla hängen. Da standen ein Paar hübsche Sandalen. Der Unterhaltungswert beim Schuhkauf mit einem Graupapagei, der die Straßenbahn nachmacht und dem liebenswerten Ehepaar, das den Schuhladen betreibt, war den Ausflug schon wert – und macht deutlich, was Online-Shops nicht bieten können – pures Leben. Und davon gibt es im Bahnhofsviertel eine ganze Menge. Mit meinen Sandalen im Rucksack wanderte ich erstmal die Weserstraße runter, Richtung Kaiserstraße zum Eis-Fontanella. Dort genehmigte ich mir unter schattenspendenden Schirmen einen großen Eiscafé. Die Sonne glänzte auf den Erkerchen der letzten großen Stadthäuser einer längst vergangenen Epoche und den Glasfassaden der Banken, die auch nach Jahren immer noch wie Eindringlinge wirken. Und allein dieser Kontrast sagt viel über die heutige Struktur des Viertels, aus dem die Einwohner einst weichen mussten, weil ihre Häuser zu Spekulationsobjekten wurden. Hier zu sitzen bedeutet auch immer, sich einem leisen Schmerz auszusetzen, einem Schmerz, der in der Freßgass oder am Römer ausbleibt.
Dieses Gefühl hat auch mit den Menschen zu tun, die hier tatsächlich wohnen und die immer genau das spiegeln, was mit dem Viertel wirklich los ist. In so einer Nacht wie der gestrigen kommen viele Ortsfremde, um einmal mit einem Auge in die Wirklichkeit zu spähen, erlaubterweise durchs Guckloch zu gucken. Dafür warteten in der Moselstraße, wo ich wenig später umherstreifte, lange Schlangen im Hof der Karmeliterschule. Sie waren dann, mit grünen Halsbändchen ausgestattet, die ganze Nacht hindurch gut zu erkennen, so dass man ihnen ausweichen konnte. Ich ließ mich für ein Glas in der Nachbarschaft bei Walon & Rosetti nieder, um das Treiben zu beobachten. Unter den Menschen waren, so schien mir, viele Angestellte aus dem nahen Bankenviertel, die aber doch nie gewisse Grenzen und Straßen überschritten. Viele von ihnen in Kostümchen und Anzug.
Es wurde langsam richtig voll und ich beschloss etwas essen zu gehen, solange es noch freie Plätze gab. Mein Ziel lag in der Elbestraße bei Pak Choi, einem Lokal mit original nordchinesischer Küche. Die Qualität der Restaurants auf engem Raum machen einen Gutteil des Bahnhofsviertelflairs aus und ziehen auch mich immer wieder hierher. Auch, weil die Restaurants ein hervorragender Ort sind, um Menschen aller Nationen zu studieren.
Gestern ungewöhnlich viele Deutsche. Vielleicht ist Neugier eine typische Eigenschaft, aber auch Sensationslust. Jedenfalls saß ich nicht lang allein. Zwei Damen, die in der Nähe arbeiteten und irgendwo im Landkreis lebten – eine von ihnen wirkte harmlos genug, um aus dem Kinzigtal zu stammen – setzten sich an den Nebentisch. Die Kinzigtalerin begann mich neugierig nach Sehenswürdigkeiten auszufragen. Beide hatten bei einer Führung mitgemacht und bemängelten, dass man alles eigentlich nur von außen zu sehen bekäme. Allerdings hatten sie auch den „Druckraum“ in der Niddastraße besucht oder jedenfalls davor gestanden. Die Kinzigtalerin erzählte, dass ein junger Mann sich wegen der Besucher beschwert und gesagt hätte, er käme sich wie im Zoo vor.
Ich frage mich, was die Leute dazu treibt, sich solche Stätten anzusehen. Ist es das Leid der Anderen oder ist es einfach nur das Leben, das sie wenigstens einmal von der Nähe aus sehen möchten? Vielleicht sollten sie einmal ihr gemütliches Kinzigtal verlassen und sich hier einmieten. Über dem Pak Choi ist eine Wohnung frei. Vielleicht reicht es auch schon, ab und zu in der Mittagspause mal nicht in die bankeigene Kantine zu gehen. Dem Viertel kann weitere Bevölkerung nur nützen.